Zu Beginn seiner Karriere wurde aus „Da Kid“ schnell „The Big Ticket“. Nun hat die Legende nach 21 Jahren ihre Karriere beendet. KG wird der NBA fehlen, wie kaum ein Zwieter. BASKET blickt zurück auf eine Karriere, die in Sachen Emotion, Führungsqualitäten und Identifikation ihresgleichen sucht.

Kevin Garnett bei seiner Vorstellung vor einem NBA-Spiel seiner Minnesota Timberwolves.

Kevin Garnett ist der einzige NBA-Spieler, der in allen fünf Hauptstatistiken zu den Top 50 aller Zeiten gehört.
Foto: getty images

Wir schreiben das Jahr 2010 und befinden uns 10.500 Meter über der Erde. Die Boston Celtics sind unterwegs zum nächsten Spiel, alle Spieler haben sich um einen Tisch versammelt, drängen sich hinter den Sitzen und im Gang; alle wollen sehen, was passiert: Denn Kevin Garnett und Glen Davis liefern sich ein Duell im Armdrücken. „Big Baby“ Davis ist den Tag über schon gegen jeden Celtic angetreten – und hat jedes Kräftemessen gewonnen. Nun ist also „KG“ dran. Die beiden Power Forwards setzen an, beginnen zu drücken, und kein Arm bewegt sich. 30 Sekunden, 60 Sekunden, die Arme bewegen sich nicht. 75 Sekunden, 85 Sekunden, die Arme bewegen sich nicht. 90 Sekunden, Davis beginnt zu zittern, sein Arm wird leer, Garnett drückt ihn langsam, aber kontinuierlich runter auf den Tisch. Die anderen Spieler toben, jubeln, rufen, lachen. Mitten im Trubel springt Garnett energisch auf und sagt mit todernster, entschlossener Miene: „Ich bin hier der Chef. Vergesst das nie und zweifelt das niemals an. Ich bin hier der Chef!“

Auch wenn diese Szene mittlerweile schon ganze sechs Jahre zurückliegt, so bringt sie doch einen zentralen Aspekt perfekt auf den Punkt: Kevin Maurice Garnett ist ein ganz besonderer Basketballer! Und seit 1995 hat er das in der NBA jeden Teamkollegen, jeden Gegenspieler, jeden Coach, jeden Referee, jeden Journalisten und jeden Fan wissen lassen.

Pionier und Revolutionär
Das fing schon bei seinem Pre-NBA-Workout an. Zahlreiche Scouts sind eingeladen, um sich den schlaksigen Jungen anzuschauen. An der Farragut Academy in Chicago, Illinois, hat er in der frisch abgelaufenen High-School-Saison 25,2 Punkte, 17,9 Rebounds, 6,7 Assists und 6,5 Blocks aufgelegt sowie durchschnittlich 66,8 Prozent seiner Feldwürfe verwandelt. Klar, dass das Interesse am Teenager groß ist. Aber der Zweifel, ob er wirklich schon ready für die beste Basketballliga der Welt ist, ist mindestens genauso groß. Bis zu diesem Workout jedenfalls. „Wir hatten gehofft, dass er einen guten Eindruck hinterlassen würde, damit wir einen der College-Jungs draften könnten“, verrät Flip Saunders, damaliger Headcoach der Timberwolves, der 2015 verstorben ist, Jahre später.

Minnesota hat es eigentlich auf Joe Smith, Antonio McDyess, Jerry Stackhouse und Rasheed Wallace abgesehen. Einer dieser College-Stars soll ein Wolf und künftiger Superstar werden, doch der Club hat erst das Draft-Recht für den fünften Pick. „Auf der Anreise hatten wir uns gesagt, dass wir Garnett nach dem Workout in den Himmel loben, um ihn für die anderen Clubs schmackhafter zu machen“, sagte Saunders damals. Nach dem Workout sieht das Ganze jedoch komplett anders aus: „Er war fantastisch. Wir wussten sofort, dass er ein ganz besonderer Junge war und ein ganz Großer werden würde. Also sind wir schnell zurück ins Hotel und haben bis zur Draft-Nacht die Daumen gedrückt, dass wir ihn ziehen können.“ Es kommt wie erhofft: Die Warriors, Clippers, 76ers und ­Bullets wählen die College-Boys, Minnesota draftet ­Kevin ­Garnett. „The Kid“ ist nun ein NBA-Player und der erste ­Spieler nach Reggie Harding (1962), Darryl Dawkins sowie Bill ­Willoughby (beide 1975), der direkt aus der High School in die Profiliga wechselt. Damit wird er zum Vorreiter für Kobe ­Bryant, Tracy McGrady, LeBron James, Dwight Howard und Co. Er ist der Pionier der „High School Draftees“ der Gegenwart. „Ich weiß, dass es hart wird. In dieser Liga spielen die besten Basketballer des Planeten. Aber ich bin bereit und will mich mit ihnen messen“, gibt sich der 19-Jährige vor seiner ersten NBA-Partie gegen die Sacramento Kings selbstbewusst.

Kevin Garnett war zuletzt meist nur noch als Mentor gefragt (Foto: Getty Images).

Kevin Garnett war zuletzt meist nur noch als Mentor gefragt (Foto: Getty Images).

Showman und Anführer
Was folgt, übertrifft alle Erwartungen: Der 2,11-Meter-Mann schlägt voll ein und mausert sich direkt zu einem Publikums­magneten. Die Heimspiele der Timberwolves, an denen das Loser-Image haftet, werden zum Showevent, weil Garnett Dinge macht, die kein anderer Spieler seiner Größe kann. Er dribbelt den Ball über das Feld, und bei Fastbreaks rennt er so schnell wie ein Small Forward, er passt wie ein Guard und kann auch noch aus der Mitteldistanz treffen. Gepaart mit seiner Athletik, seinem ­Willen, seiner Leidenschaft und seiner Energie, lassen ihn diese Dinge zum absoluten Top-Allrounder mutieren. „Der Junge ist wirklich beeindruckend“, lobt selbst Michael Jordan nach einem Duell und blickt voraus: „Er wird diese Liga auf jeden Fall prägen!“
Von diesem Zeitpunkt an wollen auch die großen Jungs an den High Schools und Colleges den Ball bringen, von außen werfen und wie Guards spielen. „Ich weiß noch genau: Ich habe ihn spielen sehen und mir gedacht, dass ich das auch können muss, wenn ich es in die NBA schaffen will“, verrät Chris Bosh. Garnett revolutioniert die Position des Power Forwards.
Seine Leistungen und Stats werden immer besser und ­besser, sein Potenzial scheint grenzenlos. Längst haben die Timber­wolves-Verantwortlichen den Wert ihres All Stars erkannt und ­unterbreiten ihm im Sommer 1997 einen Vertrag über sechs Jahre, der Kevin 103 Millionen US-Dollar einbringen soll. Der 109-Kilo-Mann lehnt ab. Kalkül? Geldgier? Selbstbewusstsein? Von allem etwas? Mag sein, aber es lohnt sich.

Leitwolf und Superstar
Minnesota packt 23 Millionen drauf, und Garnett unterschreibt. Kein US-Teamsportler hat bis dahin einen solchen Kontrakt gesehen, geschweige denn unterzeichnet. „The Big Ticket“ verdient künftig mehr als die etablierten Stars der Liga um Shaquille O’Neal (120 Mio.) und Alonzo Mourning (101 Mio.). Die Club-­Manager ­sehen den Deal als negatives Zeichen, revoltieren gegen die ­Situation in der NBA, es kommt zum Lockout. Und das alles wegen Garnetts Monsterdeal. Die NBA führt neue Vertragsklauseln ein, damit solche Kontrakte nicht mehr möglich sind. „KGs Vertrag hat den Lockout quasi heraufbeschworen. Es konnte gar nicht anders kommen“, sind sich gleich mehrere General Manager einig.
Garnett selbst konzentriert sich nur auf den Sport: Er wird zum dauerhaften All Star, Erfolgsfaktor und Leader. Erstmals seit ihrer Ligapremiere haben die Timberwolves ein Gesicht, ­einen Franchise-Player. Und mit ihm kommt auch der Erfolg: Acht Jahre in Folge gab es in Minnesota keine Playoffs zu sehen, ab 1997 spielen die T-Wolves bis 2004 dauerhaft in der Postseason. Der Grund: KG! 1998/99 verzeichnet er ein Double-Double im Schnitt, und bis zum Sommer 2007 wird er das in jeder Saison tun. „Es gibt nur sehr, sehr wenige Spieler, die seine Leaderqualitäten hatten“, lobt Point Guard Chauncey Billups, und Tim Duncan schwärmt: „Kevin ist sensationell. Ich weiß nicht, was schwieriger ist: gegen ihn anzugreifen oder ihn zu verteidigen.“
„The Kid“ darf im Sommer 2000 mit dem Team USA zu den Olympischen Spielen nach Sydney und kommt mit einer Goldmedaille aus Down Under zurück. 2003 wird er All-Star-Game-MVP. 2003/04 spielt er seine beste Saison, zaubert angsteinflößende Zahlen (24,2 PPS, 13,9 REB, 5,0 AS, 2,2 BL, 1,5 ST, 49,9 % FG) aufs Parkett, führt seinen Club zur besten Regular-Season-Bilanz der Franchise-Geschichte sowie Platz eins im Westen und wird zum ersten MVP der Timberwolves-Historie gewählt. „Kevin, du spielst dieses Spiel mit unglaublicher Leidenschaft, Energie und enormem Respekt“, adelt der damalige NBA-Commissioner David Stern den Superstar. Als Garnett die Trophäe an sich nimmt, reckt er sie in die Luft und fordert mit der anderen Hand die Fans auf, lauter zu applaudieren und zu rufen. Er will sie hören, er will sie spüren. Jeder soll wissen: Das ist sein Moment, er ist der Chef der Liga! Bis dahin ist es der Höhepunkt seiner Karriere.
Im Conference-Finale scheiden KG und Co. dann gegen das Star-Ensemble der Lakers aus (2:4). Fortan erreichen sie – trotz eines weiterhin bärenstarken Garnetts – nicht mehr die Playoffs. „Ich will Erfolg. Ich liebe Minnesota, aber ich will diesen Ring. Ich will die Championship. Und ich werde nicht jünger“, sagt Kevin im Sommer 2007. Und das Management reagiert.