Obwohl die College-Basketballsaison jedes Jahr im November startet und mit der großen „March Madness“ im März und April ihren Höhepunkt findet, geht es für die renommiertesten Schulen der USA bereits im Sommer zur Sache. Dann nämlich beginnt der „Recruitment Process“, in dem sich die Colleges der verschiedenen Divisionen an den Highschools des Landes nach den hoffnungsvollsten Talenten umsehen. Die Objekte der Begierde: Sogenannte „Five-Star-Recruits“, also Spieler, bei denen sich Experten, Coaches und die Öffentlichkeit einig sind, dass sie das Zeug für den ganz großen Wurf haben.

Am legendären College ­Kentucky, das in den vergangenen fünf Jahren Profis wie Karl-­Anthony Towns, Devin Booker und Jamal Murray fit für die NBA gemacht hat, haben fast nur „Five-Star-Recruits“ eine Chance auf Einsatzzeit, so renommiert ist diese Schule. Vor der vergangenen College-Spielzeit hießen die „Five-Star Recruits“ in diesem Programm Hamidou ­Diallo, ­Kevin Knox, PJ Washington, Nick Richards, Jarred Vanderbilt und Quade Green. Nicht in diese Kategorie fiel ein kanadischer Point Guard aus Toronto – Shai Gilgeous-Alexander. „Lediglich“ auf vier Sterne wurde sein Wert beziffert, er sei weniger talentiert als seine Jahrgangskollegen. Warum schaffte er es in diesem Sommer also dennoch in die NBA – und das sogar als Lottery Pick?

„Coach Cal“ als Förderer

„SGA“ beginnt das Basketballspielen in Hamilton, im kanadischen Bundesstaat Ontario, wo er es an der St. Thomas More High School mit neun Jahren nicht ins Junior-Team schafft und bei der Reserve mitspielt. Mit ihr gewinnt er die Stadtmeisterschaft und wird MVP. 2015 wechselt er an die Hamilton Heights Christian Academy im US-Bundesstaat Tennessee. „Ich musste einfach gegen bessere Konkurrenten spielen, um mich weiterentwickeln zu können“, begründet er diesen Schritt. Sein Plan geht auf: Als Senior legt Shai 18,4 Punkte, 4,4 Rebounds und 4 Assists pro Spiel auf.

Shai

Mit seinen 1,98 Meter besitzt Shai die Gardemaße eines modernen NBA-Point Guards (Foto: Getty Images).

Scouts läuft bei seiner Armspannweite von 2,13 Metern, seinen defensiven Instinkten und seiner bereits abgezockt wirkenden Spielweise das Wasser im Mund zusammen. Was seinen Wurf, seine Turnover-Anfälligkeit und seine Athletik angehen, schauen sie lieber weg. Andere Nachwuchsspieler wird das höhere Entwicklungspotenzial attestiert.

.SGA“ gilt bereits als weit entwickelter Spieler, von dem jedoch keine riesigen Schritte mehr erwartet werden. Dennoch reicht es für einen Platz im Kader der Kentucky Wildcats, Coach John Calipari sieht genug in ihm. Obwohl er das erste Saisonspiel startet, ist er zunächst für die Rolle des „Sixth Man“ hinter Starter Quade Green vorgesehen.

Im zwölften Saisonspiel gegen Louisville explodiert er dann, verhilft seinem Team mit 24 Punkten, fünf Rebounds und vier Assists zum Sieg. „Während er spielt, lächelt er die ganze Zeit – er scheint einfach keinen Druck zu spüren. Er spielt einfach“, zeigte sich „Coach Cal“ nach der Partie verblüfft. Was hinter diesem Ausbruch steckte? Fragt man Kentucky-Fans, verweisen sie vor allem auf seine neue Frisur. Seit seine Dreadlocks dem Kahlschnitt zum Opfer gefallen sind, scheint „SGA“ auch auf dem Court eine neue Leichtigkeit zu verspüren.

Shai

Dank extrem langer Arme liegen die Stärken von Gilgeous-Alexander aktuell vor allem in der Defense (Foto: Getty Images).

Kurz darauf erobert er sich einen Platz in der Starting Five – und bleibt dort bis Saisonschluss. Im NCAA-Tournament dreht er noch einmal richtig auf, erzielt in den ersten beiden Runden insgesamt 46 Punkte, 14 Rebounds, 13 Assists und sieben Steals. Im „Sweet Sixteen“ endet die Reise der Wildcats gegen Kansas State – für Shai Gilgeous-Alexander, der seine Kritiker mit starken Leistungen Lügen gestraft hat, beginnt sie jedoch gerade erst. Am 9. November meldet er sich zum NBA-Draft an.

Der beste PG des Drafts?

Seine Leistungen, vor allem im NCAA-Turnier, hieven ihn im Vorfeld in die Diskussion zum besten Point Guard des Drafts, er gilt als sicherer Lottery-Pick. Dennoch werden ihm am 21. Juni im ­Barclays Center in Brooklyn sowohl Trae Young als auch Colin Sexton vorgezogen. Als heißeste Interessenten werden fortan die Los Angeles Clippers genannt, die noch nach ihrem Point Guard der Zukunft suchen und an Stelle 12 und 13 auswählen dürfen. Die Charlotte Hornets kommen der „anderen“ Franchise aus L. A. jedoch zuvor und picken den Point Guard an 11. Doch die „Clips“ haben sich auf „SGA“ festgelegt, opfern ihren 12. Pick (Miles Bridges) und zwei zukünftige „Second-Rounder“, um Shai doch noch nach Los Angeles zu locken.

Dort soll er, der mit seinen langen Armen perfekt in die moderne, „Switching“-freudige NBA passt, zum Point Guard der Zukunft werden. Dass er dazu Potenzial besitzt, zeigte er in der Summer League, wo er mit 25 Punkten, fünf Rebounds und vier Assists gegen Houston wohl das beste Spiel aller Rookies in Las Vegas hinlegte. Musik in den Ohren der notorisch erfolglosen Clippers-Franchise. Und auch wenn Shai-Gilgeous Alexander mangels Erfahrung nicht sofort Starter-Minuten zugetraut werden, der „smoothe“ Spielmacher wird sich durchbeißen. Wie er es in der High School, am College und im Draft getan hat.

Mick Oberbusch

Scouting-Report

Stärken:

Ideale körperliche Grundvoraussetzungen, dank langer Arme schon jetzt ein starker Verteidiger. Point Guard mit hohem Basketball-IQ, der lieber assistiert, statt selbst zu scoren.

Schwächen:

Weder der „Dreier“ noch der „Pullup“ aus der Mitteldistanz fallen regelmäßig, verlässt sich fast nur auf den Drive. Muss ordentlich Muskelmasse zulegen. Anfällig für Turnover.

Prognose:

„SGA“ wird zunächst von der Bank kommen, kann von Beverley (Defense) und Teodosic (Spielkontrolle) einiges lernen. Auf lange Sicht ist er definitiv als Starter eingeplant.