Nein, wirklich zu beneiden ist Serge Ibaka an diesem 3. Dezember 2018 nicht. Mit seinen Toronto Raptors empfängt der Big Man die Denver Nuggets im Air Canada Center, weiß, dass er es den gesamten Abend über mit Nikola Jokic zu tun bekommen wird. Und da der Serbe bekanntlich auch von draußen nicht ausschließlich Fahrkarten schießt, muss Ibaka raus, als Denvers Nummer 15 Mitte des zweiten Viertels jenseits der Birne auftaucht. Jokic dreht sich mit dem Rücken in den gebürtigen Kongolesen hinein, dribbelt den Ball zwei Mal – und öffnet anschließend die Augen, die er, so staunt der Betrachter, irgendwo in seinem Hinterkopf versteckt haben muss.

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Nikola Jokic legte gegen die Bucks das schnellste Triple-Double der NBA-History auf (Foto: Getty Images).

Denn Jokic packt den Ball mit seiner rechten Hand und schleudert ihn aus dem Postup in einer unglaublich flüssigen Bewegung auf die gegenüberliegende Ecke, wo sich sein (nomineller) Point Guard Jamal Murray schon bereit gemacht hat. Der Jumper sitzt, die Nuggets führen mit einem Punkt. Das Spiel endet mit 106:103 für das Team aus Colorado. Die Raptors, zu diesem Zeitpunkt das Team mit der besten Bilanz der gesamten NBA, staunt lediglich beim Blick auf die Statline des Serben: Mit 25 Punkten, elf ­Rebounds und 15 Assists legt er das 18. Triple-Double seiner Karriere auf. Und ist der einzige Center in den vergangenen 30 Jahren, der 15 oder mehr Assists in einem Spiel an den Mann bringen konnte. 

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Bei dem olympischen Spielen 2016 holte Nikola Jokic mit Serbien die Bronzemedaille (Foto: Getty Images

So spektakulär diese Statistik klingt, so fast schon normal ist sie für Nikola Jokic. Wer dem erst 24-Jährigen beim Basketballspielen zuschaut, merkt schnell, dass es Spieler von seinem Schlag in der Historie der NBA noch nicht allzu häufig gegeben hat. Sein Name fällt in der Diskussion, wenn es um die besten Passing Big Men der Ligageschichte geht, mindestens als zweiter, in den meisten Fällen sogar direkt. „Nikola kann ein Spiel komplett dominieren, ohne auch nur einen Punkt zu erzielen“, sagt sein Headcoach Mike Malone. Mitspieler Jamal Murray pflichtet mit einem Augenzwinkern bei: „Es gibt absolut nichts auf dem Feld, was Nikola nicht kann – außer springen vielleicht“, und spielt dabei auf den freundlich als „unathletisch“ ­beschriebenen Körperbau des Serben an. Heute ist dieser zusammen mit den unvergleichlichen Pässen Jokic’ Markenzeichen. Doch ebendiese Statur hätte auch beinahe verhindert, dass eine solche Karriere überhaupt zustande kommt.

Auf Pferde gesetzt

Nikola wächst im serbischen Sombor auf und kommt zum ersten Mal durch seine beiden älteren Brüder mit dem orangen Leder in Kontakt. Basketball besitzt in Serbien ­einen hohen Stellenwert und ­Jokic beginnt bald, den Sport auch im Verein auszuüben. Dafür gibt er sogar eines seiner ungewöhnlichen Hobbys auf. „Bis ich 14 Jahre alt war, habe ich professionell an Pferderennen teilgenommen“, erzählt Pferde-Fan Jokic – und meint damit nicht die Wettbude, sondern das Reiten als Jockey! Basketball bleibt jedoch immer in seinem Kopf. Nach unzähligen Stunden auf dem Freiplatz mit seinen Brüdern landet Nikola im Nachwuchsteam der serbischen Provinz Vojvodina, wo er zwar mittrainiert, jedoch nicht einmal einen Spielerpass besitzt. Für die zweite Mannschaft läuft er trotzdem auf – und sorgt für Aufsehen. Vor allem – und glücklicherweise – bei ­Misko Raznatovic, einem berühmten Sportagenten aus Serbien.

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Nikola Jokic führte die Nuggets 2018/19 in Punkten, Rebounds und Assists an (Foto: Getty Images).

„Eines morgens“, erinnert sich Raznatovic, „schlug ich die Zeitung auf und sah in einem Bericht über ein Jugendspiel in Vojvodina, dass dort ein Junge 25 Punkte und fast ebenso viele Rebounds aufgelegt hatte.“ Als sich am kommenden Spieltag diese Zahlen wiederholen, ruft der Agent den ihm ­angestellten Scout Branimir Tadic an, um Infos über den damals 17-Jährigen zu erhalten. ­Raznatovic möchte wissen, ob diese absurden Zahlen an einem für das Alter weit entwickelten Körper liegen, oder ob Nikola tatsächlich Talent besitzt. Tadic fährt persönlich zu einem Spiel des Jungen und liefert seinem Chef folgenden Scouting-Report ab: fürchterlicher körperlicher ­Zustand, starkes Übergewicht – aber ­Talent ist vorhanden. „Komm nicht ­zurück, bevor du den Jungen nicht unter Vertrag genommen hast!“, lautet die Ansage von ­Raznatovic. Gesagt, getan. Da Nikola kurz darauf volljährig wird, schickt ihn der Agent zum Club Mega Vizura, welcher den Ruf besitzt, talentierte Jungs, die das Spiel noch nicht allzu ernst nehmen, in die Spur zu bringen.

Doch das dauert bei dem talentierten Teenager – was vor allem an dessen Körper und mangelnder Disziplin liegt. Das bemerkt auch Athletiktrainer Marko Cosic, der den 18-Jährigen unter seine Fittiche nimmt. Als Jokic bei Mega Vizura ankommt, ist er dermaßen übergewichtig, dass Cosic ihm die ersten 15 Trainingseinheiten mit dem Team verbietet – weil ­Nikola nicht einmal einen einzigen Liegestütz hinbekommt. Der Fitnesscoach befürchtet, die Beine des Jungen könnten unter dem Übergewicht wortwörtlich zusammenbrechen. Jokic, bei dem zwei Liter Coca-Cola und ein halbes ­Kilogramm Börek zum Frühstück auf der Tagesordnung stehen, ­erkennt wohl nicht einmal selbst sein Potenzial und agiert ohne Disziplin. Das ändert sich erst, als Misko Raznatovic Nikolas älteren Bruder Strahinja beauftragt, auf ihn „aufzupassen“. 

Im Verbund bekommen es ­Nikolas Unterstützer hin, ihm einen Sinn für Professionalität einzuimpfen. Nach seiner ersten Saison bei Mega Leks, wo er zumeist für die zweite Mannschaft im Einsatz ist, erhält Jokic regelmäßige Spielzeit im ersten Team – und läuft aufgrund seiner damals schon guten Übersicht teilweise sogar als Point Guard auf. In 13 Spielen erzielt der Youngster im Schnitt 10,9 Punkte, 6,0 Rebounds und 3,3 Assists pro Spiel. In der „Adriatic League“, so etwas wie die Basketball-Champions-League der Länder des ehemaligen Jugoslawiens, legt er mit 11,5 Punkten, 6,4 Rebounds und 2,0 Assists sogar noch leicht bessere Zahlen – zumindest beim Scoring – auf. 

Zweifel an der Einstellung

NBA-Scouts bemerken schnell sein Talent. Hinter der Einstellung des Serben stehen jedoch weiter Fragezeichen: Kann Jokic mit den athletischen NBA-Fünfern mithalten? Schließlich dürfte sich die körperliche Überlegenheit, die er in seiner Heimat an den Tag legt, nicht so einfach in die NBA übertragen lassen. Kann Nikola den Speed des Spiels generell mitgehen? Und was sind, wenn man ihn seiner körperlichen Vorteile beraubt, überhaupt seine Stärken? So dauert es ganze 40 Picks, bis Jokic an Position 41 von den Denver Nuggets gedraftet wird. Seine Erinnerung an die Draft-Nacht schildert er wie folgt: „Ich habe geschlafen. Mein Bruder hat gefeiert und rief mich an. Ich nahm den Hörer ab und sagte: ,Komm schon, ich schlafe.‘ Anschließend legte ich auf.“

Die Nuggets holen den „rohen“ Big Man jedoch nicht gleich in die Staaten, sondern parken den Center noch ein zusätzliches Jahr in Europa – mit Erfolg. Denn im Folgejahr macht Jokic dann den riesigen Schritt: In der Liga kommt er in knapp über 27 Minuten Spielzeit auf 18,4 Punkte, 10,4 Rebounds, 2,7 Assists und 1,1 Blocks sowie Steals und heimst mit großer Mehrheit den MVP-Titel ein. Als Mega Leks im Semifinale der serbischen Playoffs von Partizan Belgrad eliminiert wird, entschließt sich Jokic, den Schritt über den Großen Teich zu wagen, und unterschreibt einen Vertrag in Colorado. „Auf dem Weg nach Denver habe ich übrigens meine bis heute letzte Cola getrunken“, gibt Nikola mit einem Lächeln zu Protokoll. In seiner Premieren-Saison absolviert er 80 Spiele – 55 davon als Starter –, spielt 21,7 ­Minuten und legt 10,0 Punkte, 7,0 Rebounds sowie 2,4 Assists pro Spiel auf. Bei der Wahl zum „Rookie of the Year“ 2015/16 wird der Serbe Dritter hinter Karl-Anthony Towns und Kristaps Porzingis.

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Mit 7,3 Assists lag Nikola Jokic 2018/19 auf Platz sieben ligaweit (Foto: Getty Images).

Doch ganz glücklich ist Jokic noch nicht. Er teilt sich die Minuten mit dem Bosnier Jusuf Nurkic, ebenfalls ein talentierter Center von Übersee. Diesen schicken die Nuggets jedoch in der folgenden Saison per Trade nach Portland und geben dem „Joker“, wie er allmählich genannt wird, die Schlüssel der Franchise in die Hand. Eine Entscheidung, die sich im Handumdrehen auszahlt: Bei der Wahl zum „Most Improved Player“ 2016/17 muss Jokic lediglich „Übermensch“ Giannis Antetokounmpo den Vortritt lassen. Nur der Teamerfolg stellt sich noch nicht ein: In seinen ersten drei Saisons verpassen die Nuggets jedes Jahr die Playoffs, im vergangenen Jahr sogar besonders dramatisch durch eine Niederlage am letzten Spieltag gegen den direkten Konkurrenten Minnesota Timberwolves. Dennoch glauben die Nuggets weiter an den Serben, der noch unter dem wahnwitzig niedrigen Rookie-Gehalt von unter einer Million Dollar spielt, und entlohnen ihn im vergangenen Sommer fürstlich: In den kommenden fünf Jahren fließen insgesamt 146 Millionen Dollar auf sein Bankkonto. „Er ist unser Franchise-Spieler, wir haben uns für ihn entschieden. Er ist die Zukunft des Teams, wir erwarten viel von Nikola“, sagt Coach ­Malone bei der Vertragsunterzeichnung.

Überragende Übersicht

Am besten schon in den diesjährigen Playoffs. Denn die Nuggets beendeten die Regular Saison ­bekanntermaßen mit 54 Siegen hinter Meister Golden State auf Platz zwei im starken Westen, auch und vor allem dank eines überragenden Nikola Jokic. 20,1 Punkte, 10,8 Rebounds, 7,3 Assists, 1,4 Steals sowie 0,7 Blocks in 31,3 Minuten Spielzeit katapultieren den „Joker“ in die MVP-Konversation. Und auch wenn er dort wohl leer ausgehen wird, besteht kein Zweifel mehr daran, was für ein besonderer Spieler er ist. 

„In Serbien lernen wir bereits im ganz jungen Alter dribbeln – unabhängig von der Körpergröße oder Position“, erklärt Jokic seine überragende Übersicht. Er ist ein Point Guard im Körper eines Centers und der Grund dafür, warum in den kommenden Jahren von jedem Nachwuchs-Big-Man zumindest akzeptable Skills beim Passing verlangt werden. „Nikola zeigt jedem in der NBA, dass er ein echter Kandidat für den MVP-Award ist“, sagte Malone Mitte Dezember, als der Gelobte die Nuggets trotz drei verletzter Starter auf Heimvorteil-Kurs hielt. „Nicht nur aus Sicht der Stats, sondern auch wenn man darauf schaut, wie er das Spiel Nacht für Nacht in den verschiedensten Bereichen beeinflusst. Deshalb ist er so ein besonderer Spieler.“ Man kann dem Coach nur beipflichten. Denn jemanden wie Nikola Jokic hat die NBA trotz ihrer illustren ­Historie zuvor noch nie gesehen. 

Autor: Mick Oberbusch